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: Annäherung und Distanz :


Klaus-Martin Bresgott, Annäherung und Distanz. Zum Wort-Ton-Verhältnis in Hermann Schroeders Chorwerken "Eichendorff-Balladen", "Carmina burana", "Zwei Hohelied-Motetten" und "Rilke-Zyklus", erschienen in: Mitteilungen der Hermann-Schroeder-Gesellschaft, Heft 4, 2005, S. 25-46
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Die Beschäftigung mit den A-cappella-Kompositionen Schroeders und ihre Einstudierung bedingen eine intensive Auseinandersetzung mit den dazu von Schroeder herangezogenen Texten. Anders, so scheint mir, bleiben die Werke sowohl für den Interpreten als auch für den Hörer spröde und leer. Ihre Bildhaftigkeit ist ganz den Texten entnommen, sie ist unumstößlicher Beweis für das Prinzip der Wort-Ton-Beziehung, das an den frühbarocken Komponisten, allen voran Heinrich Schütz, geschult ist und sich streng an deren Ernsthaftigkeit orientiert. Entgegen schon zu Schroeders Lebzeiten vielerorts zu hörender esoterischer Transzendentalklänge ist für Schroeder in Übereinstimmung mit den Alten Meistern eine immanente Form als Konfrontation mit dem Text und als Abbild des Textes unabdingbar. Sie dient ihm im Dialog mit dem Hörer als notwendiges Strukturgebäude. Dabei obliegt es in nicht geringem Maße dem Hörer, das Alte, sofern es aus der Tradition herüberleuchtet, neu zu hören und wahrzunehmen. Hier entfacht Schroeder über die Musik eine neue Möglichkeit der Interpretation des Textes. Hier verschafft er der Musik über den Text ein neues Wirkungs- und Klangfeld.

Die Vielfalt der von Schroeder herangezogenen Texte entspricht der Fülle kompositorischer Mittel, derer sich der Komponist zu bedienen vermag. Hier seien einerseits die Kompositionen für Männerchor, insbesondere die "Zwei Eichendorff-Balladen" (1982) und der Carmina-burana-Zyklus "Von der Liebe und vom Suff" (1981) genannt. Auf der anderen Seite finden sich exemplarisch die zwei "Hohelied-Motetten" (1980) sowie die für vier- bis siebenstimmigen gemischten Chor geschriebenen Lieder nach Rainer Maria Rilke, vereint im "Rilke-Zyklus" (1972). Im Bereich der Kompositionen für Männerchor habe ich sowohl die Eichendorff-Balladen als auch den Carmina-burana-Zyklus mehrfach im Quartett aufführen und als CD herausbringen können. Dass dieser CD ("Als welkten in den Himmel ferne Gärten", Cantate/Musicaphon Kassel M 56848) derartiger Erfolg beschieden war, dass u.a. das Klassikmagazin "crescendo" sie mit dem Prädikat "ausgezeichnet" versah, hatte und hat ihren Grund auch in den darauf zu hörenden Werken Schroeders.

Anders als viele Zeitgenossen verortet Schroeder etwa den Dichter Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857) nicht nur im romantischen Idyll, versteht und vertont also nicht allein die der Eichendorffschen Poesie innewohnenden, klassisch vertraut anmutenden Sprach- und Klangbilder, sondern greift nach dem Gestus, der sich hinter dem sinnlichen Schmelz volkstümlich schwingender Sprache auftut. Er versteht Eichendorff gleichermaßen in der Abkehr von vollkommener Weltfreude und enthusiastischer Daseinslust als einen die Gegenwart in ihrer Zwiespältigkeit und Fragwürdigkeit wahrnehmenden und verarbeitenden Dichter.

Sichtbar wird dies in den Balladen-Vertonungen. Sehr sensibel fängt Schroeder die ewig aktuellen Themen wie Schicksal, Endlichkeit und unglückliche Liebe ein und artikuliert die Bedrohlichkeit der Aussagen beider Balladen in kristallin fokussierter Plastizität. Strahlen die sinnlich-naiven Bilder der "schönen Braut" im "Waldgespräch" und die Eingangstakte des einen Totentanz markierenden "Kehraus" (Bsp. 1) in klassischer, romantisch verwobener Akkordik, so geben sich die Schlusssequenzen beider Balladen – jede für sich – als ein Meisterwerk im Rahmen klassischer Tonalität gestaltbarer, kammermusikalischer Dramatik. Da nehmen Wort und Ton gemeinsame Gestalt an. Da entsteht Deckungsgleichheit bei völliger Wahrung der Autonomie von Wort und Musik.


Beispiel 1

Ähnliches gilt für die unumwunden derben, ihrem sinnlich-frivolen Charakter entsprechend nicht weniger konsequent bebilderten Kompositionen des Carmina-burana-Zyklus. Auch das ist ein der Eichendorffschen Alltäglichkeit zwar nicht gleichförmiger, so doch in seiner Unmittelbarkeit verwandter Realitätssinn, der in Schroeders künstlerisch-kompositorisches Welt- und Daseinserleben integriert und von ihm in entsprechend volksliedähnlichem, beinahe tänzerischem Duktus zum Klingen gebracht ist. Dabei spart Schroeder, der die Übersetzungen übrigens selbst besorgt hat, nicht an Ironie und, beispielsweise in "In der Schenke" (Bsp. 2), an schneidender, den moralisch-lebensweisen Impetus auf die Spitze treibender Direktheit, die sowohl in quasi melodramatischem, sparsam harmonisiertem Sprechgesang als auch mit wild ausreizenden Sequenzen zum Zuge kommt.


Beispiel 2

Dem steht "Überall ist Waldesgrün" (Bsp. 3) mit seiner Botschaft sehnsüchtig sich verzehrender Liebe bis ins Detail diametral gegenüber. Die sich hier herauskristallisierende Polarität des mittelalterlichen Lebensbildes zwischen ausschweifender Männlichkeit und devot verinnerlichter Weiblichkeit zeichnet Schroeder überzeitlich und damit unmittelbar authentisch. Der gesamte (vierteilige) Zyklus bietet in seiner kompakten Form ein mustergültiges, heiter pointiertes Genrebild.


Beispiel 3

Nach meinem Dafürhalten gehen die Werke für gemischten Chor in ihrer künstlerischen Konzeption und Textauswahl noch über die Kompositionen für Männerchor hinaus. Das lässt sich konkret an den beiden "Hohelied-Motetten" (1980), insbesondere aber dem "Rilke-Zyklus" (1972) aufzeigen. Was zeichnet zunächst die beiden "Hohelied-Motetten" aus? In beiden fügen sich in den durchweg transparent gestalteten Sätzen melodische Stimmführung und chorales Klangbild geschickt ineinander. Der bildhafte Sekundgang des Tenors in der ersten Motette "Steig, o steig herab" (Bsp. 4) nimmt ganz den Charakter des Textes auf und scheint mir Sinnbild Schroederschen Kompositionsgebarens zu sein.


Beispiel 4

Demgegenüber offenbart sich sein offener Umgang mit der Tradition gleich in den Anfangstakten der zweiten Hohelied-Motette: "Wie schön bist du, wie anmutsvoll, wie schön bist du, Geliebte, im Genießen!" (Bsp. 5) erklingt wie eine Reminiszenz an die Hohelied-Motetten Melchior Francks oder Leonhard Lechners (Bsp. 6/7).

Beispiel 5 Beispiel 6 Beispiel 7


Unübertroffen sind die Kompositionen Hermann Schroeders zu Versen Rainer Maria Rilkes, sechs an der Zahl, zusammengefasst im 1972 im Süddeutschen Verlag Heidelberg erschienenen "Rilke-Zyklus". Ich habe sie in diesem Jahr mit dem Kammerchor Lilienfelder Cantorei Berlin u.a. im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie aufführen können und - gemeinsam mit den „Six Chansons“ Paul Hindemiths, die auf französischen Versen des Dichters basieren und auch von Hermann Schroeder gern aufgeführt worden sind - auf CD gebracht. Drei Lieder des "Rilke-Zyklus" hat DeutschlandRadio Berlin ausgewählt und im Oktober in einem Porträt der Lilienfelder Cantorei Berlin ausgestrahlt.
Die für den Rilke-Zyklus von Hermann Schroeder ausgewählten Gedichte stammen alle aus den Anfangsjahren des vergangenen Jahrhunderts. Sie markieren einen ersten Höhepunkt im Oeuvre Rilkes und finden sich in drei verschiedenen Bänden: "Das Buch der Bilder", 1902 und 1906 in zwei Büchern mit je zwei Teilen ("Aus einem April", "Herbst"), "Neue Gedichte", 1907 ("Sappho an Eranna", "Liebes-Lied") und "Der neuen Gedichte anderer Teil", 1908 ("Das Rosen-Innere", "Lied vom Meer").

Entgegen der beinahe akrobatischen Reimform der ersten Strophe strahlt Schroeders Bearbeitung des den Zyklus eröffnenden Gedichtes "Aus einem April" (Bsp. 8) in den ersten zwölf Takten eine erwartungsvolle Ruhe aus. Die "schwebenden Lerchen" wirken fast schon entrückt in den weit gespannten Phrasierungsbögen des Soprans. Demgegenüber legt Schroeder die erdschweren Textpassagen, die in den Reimen "... schwer war / ... leer war" enden, in homophonen Akkordrückungen in die Unterstimmen. Als sei diese Schwere zum Schweigen verurteilt, erklingen Alt, Tenor und Bass, nach den euphorisch sich aufbäumenden Bildern erwachender neuer Stunden, in den letzten sieben Takten des Stückes nunmehr bocca chiusa. Darüber schwingt sich der Sopran zart tastend den "Knospen der Reiser" entgegen. Den Augenblick des Frühlingserwachens fasst Schroeder am Ende in schimmerndes Fis-Dur.


Beispiel 8

Das zweite Gedicht "Sappho an Eranna" (Bsp. 9) nimmt ob seines mythologischen Inhaltes eine Sonderstellung im Zyklus ein. Schroeder nimmt die zwingende, leidenschaftliche Gebärde sehr bewusst auf und verarbeitet das Bild des von Wein und Efeu umrankten (Dionysos-)Stabes, in den die jung gestorbene griechische Dichterin Eranna (vermutlich Erinna von Telos) verwandelt ist, scheinbar atemlos. Wie schon in "Aus einem April" schlägt auch hier das Geschehen wildester Unruhe, der Schroeder mit Synkopen und peitschenden Sechzehntelläufen Gestalt gibt, in konzentrierte Stille um. Das zentrale Bild des Grabes, mythologische Metapher für Tod und Auferstehung, findet, ähnlich dem umrankten Stab, insbesondere in der Führung der beiden Frauenstimmen, die über Quarten und Quinten immer wieder dicht gelagert in Sekunden miteinander verwoben sind, ihren Ausdruck.


Beispiel 9

Das "Liebes-Lied" (Bsp. 10) markiert nicht nur innerhalb des Schroederschen Zyklus' einen Höhepunkt. Es ist eines der berühmtesten Gedichte Rilkes überhaupt und führt exemplarisch in dessen dichterisches Denken ein. Hier offenbart sich die Erkenntnis, dass das Gedicht nicht als Beleg für allgemein gültige, quasi übergeordnete Einsichten zu benutzen, sondern vielmehr als Moment der Selbstbesinnung und -erfahrung zu begreifen ist. So besteht das Gedicht als Sinnbild Rilke'scher Dichtung an sich und verweist doch in aller Entschiedenheit auf seine Einzigartigkeit und Besonderheit.


Beispiel 10

In den Anfangsversen strahlen Hingabe und Emphase, klingt entgrenzte Offenheit an. Schroeder individualisiert dieses Bild, indem er den Text erneut allein in die Sopranstimme legt. Das sehnsüchtig bange, nicht zu beantwortende "Wie?" klingt, sich immer mehr zurücknehmend, in dreimaliger, jeweils mehrere Takte überspannender Wiederholung in Alt, Tenor und Bass. Erst im seufzenden "Ach" liegt der Text in aller Munde, gibt Schroeder das Bild doppelt motivierter Selbstbewahrung in den ganzen Chor und interpretiert die Ambivalenz zwischen Hingabe und Rückzug, innerer Preisgabe und äußerer Bedrängnis damit über das Persönliche hinaus als Lebensproblem überhaupt. Harmonie in liebender Hingabe einerseits, Suche nach Refugien andererseits. Beides steht für das große Unfassliche, beides versucht Rilke fragend zu greifen: "Auf welches Instrument sind wir gespannt? Und welcher Geiger (Urtext: Spieler) hält uns in der Hand?" Dann plötzlich scheint alles beendet, wird das Liebesgedicht unerwartet zur Betrachtung, zum Bild an sich. "O süßes Lied." Spricht so der Liebende? Klingt so sein Gedicht?

Das "Liebes-Lied" wird zu einem Lied über die Liebe. Der Dichter spricht. Nicht sein lyrisches Ich. Schroeder löst dies im Detail ein (Bsp. 11). Wieder erhebt sich der Sopran weit über die Unterstimmen, in oktavüberspannender Ligatur erklingt das "süß". Die Unterstimmen folgen für sich – das Unisono der Textbehandlung, das Unisono der Seelen ist damit aufgelöst. Es vermag sich erst im Schlusston – in der Betrachtung – noch einmal herzustellen. Die themenbezogene Größe dieses Gedichtes besteht darin, dass nicht mehr Lust oder Leid, Freude oder Trauer allein das Bild bestimmen. Rilke verdinglicht und begreift damit das Thema in seiner Gesamtheit. Alles schwingt mit: Lust und Leid, Freude und Trauer, Übereinkunft und Abgrenzung. In diesem Bewusstein wird die Euphorie nicht entwertet, wohl aber verlieren Leid, Trauer und Abgrenzung ihre Negativzeichnung. Sie sind integraler Bestandteil der Liebe und verhelfen dieser zur Wirklichkeit, wie sie Rilke empfunden und begriffen hat. Schroeder hat es ihm in dieser Vertonung gleich getan.


Beispiel 11

Die sich auf das frühere Gedicht "Die Rosenschale" beziehende Vertonung "Das Rosen-Innere" (Bsp. 12) erscheint im Klanggewand Schroeders als zart gewebtes, impressionistisch anmutendes Charakterstück, in dem alle Bedeutungsebenen der Rose, wie etwa Liebe, Schönheit und Tod, Gestalt annehmen. Der Bildwelt des Innen und Außen, in der Rilke eine Umkehr der Räume und damit einen neuen Welt- bzw. Empfindungsraum überhaupt zeichnet, gestaltet Schroeder in träumerischer Gebärde. Dabei spielen Taktwechsel in der Gestaltung der ersten Verse eine gewichtige Rolle.


Beispiel 12

Darüber hinaus erklingt die unergründbare Frage "Auf welches Weh legt man solches Linnen?" hier erstmals allein im Bass - als wolle Schroeder die Tiefe der Frage und ihren Urgrund belegen: das fassungslos staunende Gefühl. Er führt die Stimme in dieser Phrase vom H in einer ganz den textlichen Gestus aufgreifenden Melodie über eine steile Septime in die Oktave zu der Rosenblatt-Metapher "solches Linnen". Rilke spiegelt hierin den Anfangsvers seines selbstverfassten Grabspruches "Rose, oh reiner Widerspruch". Schroeder assoziiert diesen in der Stimmführung quasi figürlich. Er folgt und überführt Rilke, indem er dessen Dingerfahrung und -beschrei-bung als eine gleichfalls innere Erfahrung apostrophiert. Die damit einhergehende Berührung wahrt jedoch den Abstand. Sie vollzieht sich allenfalls symbolisch. Die Distanz zwischen Dichter und Ding bleibt damit erhalten. Schroeder übergibt das träumerische Bild des Sommers wieder allein dem Sopran, die Maße dieses Zimmers abermals in einer (im Gegensatz zu der anfänglichen Basslinie abwärts fallenden) Septime durchmessend.

Das Gedicht "Herbst" hat etliche Komponisten beschäftigt und zu großartigen Werken veranlasst. So auch Frank Schwemmer (*1961) in seinem einen höchst interessanten und kraftvollen Kontrapunkt zu Schroeders Zyklus setzenden Rilke-Zyklus (für Männerquartett), der mit einem Vers dieses Gedichtes überschrieben ist: "Als welkten in den Himmeln ferne Gärten" (1999). Schwemmer fasst das Bild der fallenden Blätter hier in wirbelnder Bewegung auf, er bebildert die Unruhe, indem er in Anlehnung an Rilkes "Herbsttag" "... auf den Fluren ... die Winde" loslässt (Bsp. 13).


Beispiel 13

Schroeder hingegen stellt eine Windstille her. Als wolle er die fragile innere Einheit von Stoff und Idee in der äußeren Form binden, hält er inne und kommt in schwebender Dichte einer Auslieferung des Wortes an die Welt zuvor. Hier sind Himmel und Erde in der Oktave vollkommen ausgelotet, fallen Blätter und schwere Erde ganz in die Tiefe, "in die Einsamkeit" hinab (Bsp. 14). So wie "wir alle". Der hier erreichte, scheinbare Tiefpunkt des Gedichtes, der sich unumwunden als innerer Erfahrungswert auftut, erweist sich als Bild in doppelter Funktion. Einerseits kreisen die Verse im unmittelbaren Verständnis des "Fallens" um das direkt erleb- und erfahrbare Bild der Vergänglichkeit. Andererseits offerieren sie dieses


Beispiel 14

(Ver-)Schwinden als klare Bestimmung, die über jeden Zufall erhaben ist. Jedes Blatt erfüllt in seinem Fallen eines der wesentlichen Gesetze des Weltalls. "Es ist", so Rilke, "in allen". Schroeder stellt diesen Satz für sich. Er unterstreicht die Erkenntnis universaler Gemeinsamkeit, indem er – wie zur Besinnung – eine Viertelpause voranstellt. Die zuvörderst und zutiefst empfundene Einsamkeit in der Gemeinsamkeit findet ihre Entsprechung im in Sekunden aufgeschichteten Akkord auf "allen". Parallelen zu Hermann Hesses "Im Nebel" tun sich für diesen Moment auf. Hier wie da wird die Hesse'sche Quintessenz "Jeder ist allein" bestimmendes und im Satz Schroeders deutlich hörbares Bild. Aber Rilke wäre nicht der Dichter, "der das deutsche Gedicht zum erstenmal vollkommen gemacht hat" (Robert Musil), wenn hier über die Musikalität des Versmaßes hinaus nicht auch ein neues Bewusstsein postuliert und erfahrbar wäre, das weit über eine einfache Heilsbotschaft hinausginge. Es mag überraschend und möglicherweise enttäuschend zugleich klingen, wenn dieses sich als die Erkenntnis individueller menschlicher Einsamkeit zu erkennen gibt. Aber diese Erkenntnis ist ebenso wenig gering wie resignativ. Sie anerkennt die Geschiedenheit von Mensch und Gott, ohne dessen Existenz zu leugnen. Seine Halt gebende Kraft aber ist nur in der Erkenntnis und dem Gefühl wacher Einsamkeit tatsächlich erfahrbar und schafft das Bewusstsein für ein neues, in der Moderne Heimat suchendes Selbst-Bewusstsein.

Das abschließende "Lied vom Meer" (Bsp. 15) geht ganz im Wehen und Rauschen, das Schroeder gezeitenartig verarbeitet, auf. Es ist ein in sich schwingendes, ein kraftvolles Werk, dessen Stellung am Schluss des Zyklus diese Vitalität noch einmal unterstreicht. Dabei nimmt Schroeder wenig Rücksicht auf die beinahe klassische Sonett-Form des Gedichtes. Er reizt die Bilder des Windes in drängender Wiederholung aus und führt sie in der Litanei der Gezeiten zu der wiederholt auftretenden Frage der Unendlichkeit, die im "Uralten Wehn" und im "Ur-Gestein" raumgreifend präsent ist: "wenn einer wacht, so muß er sehn, wie er dich übersteht".


Beispiel 15

"Überstehen" steht hier als einzige Form der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Ewigen im Raum. Abschließend nimmt Schroeder noch einmal die Kernform der Dinggedichte Rilkes auf: die Präsentation eines Bildes in einer Sprache, die in der Spiegelung des Gegenstandes gleichermaßen die damit verbundene Erfahrung anklingen lässt. Darüber klingt auch das Grundthema dieser Dichtung, die Isoliertheit des modernen Menschen in der Dualität von Welt und Individuum an. Hermann Schroeder schafft dabei mit seinen Kompositionen einen den Gedichten autonom und künstlerisch ebenbürtig gegenüberstehenden Zyklus. Ein Werk, dessen Erarbeitung sich lohnt. In vielfacher Hinsicht. Die CD "Uraltes Wehn" (2004) mit der Einspielung des Rilke-Zyklus ist im Eigenverlag der Lilienfelder Cantorei Berlin erschienen.

CD-Tipps

Musicaphon M 56848 u.a. der Zyklus nach "Carmina burana" (Atrium Ensemble)

Lilienfelder Cantorei u.a. "Rilke-Zyklus" für Chor a cappella (Ltg.: Klaus-Martin Bresgott)



Vokalwerke (Auswahl)
"Da Jesu an dem Kreuze stund"