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Die Praxis der Choralbegleitung (2)


Grundsätzliche Bemerkungen zur Orgelbegleitung des gregorianischen Chorals.

Aufsatz von Hermann Schroeder, erschienen in: Musica sacra 70, 1937, S. 141-143 und S. 195-196

Nachdem wir im vorigen Heft zu der Choralbegleitung in grundsätzlichen Bemerkungen Stellung genommen haben, wollen wir uns auf Grund dieser Erkenntnisse nun der Praxis der Choralbegleitung zuwenden. Die Grundlagen zu folgenden Ausführungen sind also nicht etwa in der Anpassung unserer Harmonielehre an die gregorianischen Melodien oder in einem persönlich ausprobierten "System" zu suchen, sondern einzig darin, daß man sich in den Fällen, in denen man auf eine Begleitung nicht verzichten zu können glaubt, nur von dem Choral als rein melodischem Kunstwerk im Stil und Ausdruck, in der Tonalität und im Rhythmus bei der den Melodien zugefügten Klanglichkeit ("Harmonisation") leiten läßt. Da es sich bei der Choralbegleitung also um weit mehr als um eine Technik der Harmonisierung handelt, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

1. echtes Verständnis der Melodien, ihres Aufbaus, ihres rhythmischen und tonartlichen Lebens,

2. vollkommene Vertrautheit mit der Harmonielehre, mit der Harmonisation der Kirchentonarten einschließlich ihrer Transpositionen,

3. Übung in der Stimmführung, d. h. Kenntnis der kontrapunktischen Gesetzmäßigkeiten.

I. Die choralische Diatonik der Harmonisation

Da es sich bei der Choralbegleitung um eine harmonische Fassung von Melodien handelt, wird von einer stilgerechten Begleitung zuerst verlangt, daß sie sich im tonartlichen Bereich der Melodien bewegt, d. h. die Harmonie muß die Diatonik der Choraltonarten strengstens beobachten. Entgegen den neueren Volksliedern, bei denen man häufig bereits aus der Melodie die latenten harmonischen Funktionen von Tonika – Subdominante – Dominante hört, bildet diese für unsere Harmonielehre grundlegende Akkordverbindung in keinster Weise ein Aufbauprinzip für die gregorianischen Melodien. (Den Begriff Subdominante gibt es dort überhaupt nicht und die Dominante ist von acht Tonarten nur in drei Fällen die Oberquinte!) Ferner kennen die alten Tonarten außer im Lydischen keinen Leitton von 7 nach 8. Häufige Schlußbildungen wie folgende, die die sonst geläufige stufenweise Erreichung des Finaltons umgehen, lassen jeden Zweifel verschwinden, als ob man ein harmonisches V–I empfinden könnte:


Man sieht also, daß die Kadenz I–IV–V–I für die Harmonisierung des Chorals in keiner Weise Ausgangspunkt sein kann, ja, je deutlicher die gewählten Harmonien dieses "moderne", unserer klassisch-romantischen Funktionsharmonik angehörende Empfinden zeigen, desto weiter entfernen sie sich vom Charakter der alten Kirchentonarten. Natürlich wird auch jede Erweiterung dieser Kadenz, etwa durch den Quintsextakkord der II. Stufe statt der IV. oder gar durch den Dominantseptakkord statt der V. Stufe, als stilwidrig empfunden. Es wird dies jeder spüren, daß man zwei musikalisch so weit auseinanderliegende Welten nicht vereinigen kann.

Um nun doch zu einer stilgemäßen harmonischen Fassung zu kommen, gehen wir den Weg, den eigentlich unsere Harmonie in der Entwicklung gegangen ist, da sie ja ursprünglich die vertikal gelesene Form des strengen kontrapunktischen Satzes ist: wir gehen also von der Gegenmelodie aus – nicht als ob der Choral kontrapunktiert werden sollte, sondern weil der Ausgangspunkt zu einer artgemäßen Klanglichkeit nur vom Melodischen aus gefunden werden kann. Wir kommen dann zu unserer Grundlage, zur Kirchentonkadenz. Wie folgendes Beispiel zeigt, bilden wir zu der melodischen Schlußformel zuerst eine Gegenstimme (halbe Noten im Baß); die spätere Ausfüllung (die Mittelstimmen sind durch Viertel verdeutlicht) ergibt dann die mehrstimmige dorische, phrygische, lydische und mixolydische Kadenz. Für die harmonische Fassung der Kadenz erübrigt sich bei diesen allgemeinen Formeln ein Eingehen auf die plagalen Tonarten, da sie dieselben sind wie die der authentischen.


Notwendige technische Voraussetzung ist hier auch die Fassung der Kadenzen in der weiten Lage und in den Formen des dreistimmigen Satzes, natürlich auch in allen möglichen Transpositionen.

Wie es an den Beispielen der Kadenzen klar wurde, gilt naturgemäß die Forderung der strengen Diatonik für die gesamte Begleitung, und zwar regelt sich dies nach der einzig auch im Choral selbst vorkommenden Veränderung des Tones h bzw. b. Also: haben wir etwa ein dorisches oder lydisches Stück mit konstantem b (z. B. Kyrie XI), so wird auch die Begleitung sich des b bedienen; haben wir aber eine rein dorische oder rein lydische Komposition vor uns, in der nur die große Sext h bzw. die übermäßige Quart h vorkommt (z. B. Kommunio Beati mundo corde, Hymnus Ave maris stella, Alleluja I und II vom Fest Namen Jesu), so darf auch die Begleitung ein b nicht benutzen, sondern muß sich an die strenge Tonalität gerade dieses Stückes halten. Kommt in dem selben Stück h und b vor (z. B. Sequenz Veni, sancte Spiritus, Introitus Gaudeamus und bei den weitaus meisten Stücken der beiden genannten Tonarten), so wird die Begleitung an den entsprechenden Stellen b bzw. h bringen. Bei seltenen Stücken endlich wie der Ostersequenz Victimae, die weder ein h noch ein b in ihrer Melodie aufweisen, also durch ihr Alter noch stark im Pentatonischen verwurzelt sind, wird man in der Harmonik das für die Tonart charakteristische h verwenden.

Besondere Beachtung verdient noch der phrygische Schluß, der wiederum in der Harmonielehre als solcher mit großer Terz (gis) auftritt. Dieses gis ist bekanntlich seit der Praxis der klassischen A-cappella-Musik gebräuchlich, weil nach den Theoretikern des Palestrinastils zwei Mollakkorde hintereinander keine schlußfähige Kadenz bilden können. Also kann ein Gebrauch des gis niemals aus der Melodie heraus gerechtfertigt werden. Da aber wohl auch für unser Gefühl der Mollschlußakkord im Phrygischen nicht voll befriedigend wirkt, wird die beste und reinste Kadenz im 3. und 4. Ton der terzlose Schlußakkord sein. Ob man schließlich ganz zu Ende eines Stückes sich die Ausnahme eines gis gestattet, wird immerhin Geschmacksache bleiben, worüber jeder selbst entscheiden kann: doch soll man ein gis niemals in phrygischen Mittelkadenzen verwenden; z. B. wirkt ein Schluß mit großer Terz am Ende des Introitus-Antiphons im 3. Ton sehr störend, wenn sofort fast noch in den E-Dur-Klang (besonders in stark akustischen Räumen) der Psalm mit dem Ton g beginnt! Zu dem im Beispiel 1 angeführten leittonlosen Schluß der 3. und 4. Tonart verbietet sich außerdem von selbst ein gis im Schlußakkord, da dies eine Querständigkeit ergäbe, die man wohl nicht aus dem Geist der choralischen Melodik wird erklären können. Hier muß man darauf hinweisen, daß für die Choralbegleitung auch in allen anderen Tonarten der terzlose Schluß stets für ein fein empfindendes Ohr die reinste und am wenigsten störende Form bildet, da jeder Akkord mit großer oder kleiner Terz die Klarheit der alten Tonart verwischt und sie je nachdem nach Dur oder Moll färbt.



II. Die Freistimmigkeit

Man muß sich von vorneherein von dem Gedanken frei machen, als müsse die Choralbegleitung sich in einem vierstimmigen Satze ausdrücken; nichts wäre einer sich dem Sänger anpassenden Begleitung hinderlicher, als wenn man eine bestimmte Anzahl von Stimmen wie in einem Satze des reinen Kontrapunktes oder der strengen Harmonielehre durchführen wollte. Die Begleitung des Chorals soll grundsätzlich freistimmig sein, d. h. sie besteht nicht aus 4, 3 oder 2 real durchgeführten Stimmen, sondern ergibt sich wie jede harmonische Unterlage aus den Gesetzen eines Klanges, der im Formalen, Dynamischen und Tonartlichen die innere Beziehung zur Melodie spüren läßt.

Wenn wir von der kontrapunktischen Fassung eines cantus firmus absehen, muß sich eine Begleitung ihrer Melodie stets unterordnen: je melismatischer und belebter, je solistischer und differenzierter eine Melodie nun ist und je mehr sie nur aus ureigensten melodischen Gesetzen lebt, desto schwieriger gestaltet sich eine Begleitung im Sinne einer harmonischen Fassung. Ferner ist es auch orgeltechnisch nicht ersichtlich, warum eine Begleitung in einem Satz stehen soll, als ob er von vier verschiedenen Stimmen übernommen werden sollte. Schwerlich wird man in der musikalischen Literatur ein so banales Gegenstück finden zu folgendem Vorschlag, der so lange Sexten- und Dezimenparallelen über dem Orgelpunkt spielt, bis er endlich doch der Dominante weichen muß. Wenn auch das VIII. Kyrie kein Stück aus der Blütezeit des Chorals darstellt, so wird ihm aber mit einer solchen Begleitung noch das Letzte des Choralischen genommen.


Weiter wird von einer Begleitung das dynamische Mitgehen mit der Melodie verlangt; daß weder Register- noch Kastenschweller (dieser vielleicht sehr selten an Schlüssen) in Frage kommen, braucht wohl nicht weiter begründet zu werden. Es gibt aber eine andere, der Orgel arteigene Möglichkeit der dynamischen Schattierung starrer Akkorde, wenn man sich klar macht, daß ein mehrstimmiger Akkord gegenüber einem weniger-stimmigen eine dynamische Steigerung bedeutet. Wenn man von der Ein- zur Zwei-, zur Drei-, zur Vierstimmigkeit übergeht, so bedeutet dies dynamisch ein Crescendo, das Umgekehrte ein Decrescendo. Eine Begleitung, die diesen großen Vorteil einer Freistimmigkeit ausnutzt, kann also die dynamische Entwicklung eines Stückes in etwa mitmachen. Besonders wichtig wird das an Schlüssen, an denen der Sänger immer ein Diminuendo singt, wobei ein liegender Orgelakkord in sich ein Crescendo bedeutet, und dies umso mehr, je größer die Stimmenzahl des Schlußakkordes zu den vorhergehenden ist.

Als wichtige Forderung, die wiederum dem Wesen der Begleitung eines künstlerischen Gesangs entspringt, muß folgende gestellt werden: im allgemeinen soll eine Begleitung die Melodie nicht mitspielen. Wenn Sänger durch die Begleitung gestützt werden sollen, so geschieht dies durch unterlegte Akkorde, die der Sänger hört. Die mitgespielte Melodie wird aber vom Sänger nicht wahrgenommen, da er diese Töne gleichzeitig singt. Ferner ist es fast unmöglich, die gesanglichen Feinheiten des gregorianischen Melismas mit dem starren Orgelton mitzumachen, so daß bei mitgespielter Melodie von feinen Ohren stets ein Nebeneinander der gesungenen und gespielten Melodie wahrgenommen wird. Auch hier wird das Prinzip variabel sein: je größer der Chor und je mehr die Orgel führen muß (vgl. den Volkschoral), desto eher kann man noch eine mitgespielte Melodie verteidigen; je solistischer der Gesang, desto überflüssiger und unerträglicher wird eine mitgespielte Melismatik sein. Freilich verlangt diese Art der Begleitung eine sehr genaue Kenntnis des Stückes - und damit wären wir wieder beim Ausgangspunkt, daß nämlich im Grunde die eigene zu geringe Kenntnis des Chorals die Ursache sowohl zu schlechten Begleitungen wie auch zu den mit so verschiedenen Anschauungen geführten Auseinandersetzungen ist.
Folgendes kleine Beispiel, das im Hinblick auf das vorhergehende bewußt gewählt ist, soll die Freistimmigkeit und den inneren dynamischen Aufbau einer Begleitung zeigen, die dem Sänger vollste Freiheit läßt. (Die Wahl der Akkorde kann auch eine andere sein; sie konnte in diesem kurzen Rahmen nicht behandelt werden. Es sei aber hier auf die demnächst erscheinende Neuauflage der Choralschule von P. Dominicus Johner hingewiesen, in der das Kapitel der Choralbegleitung eingehendere Behandlung erfährt.)



Die Praxis der Choralbegleitung (1)
Zur katholischen Musik der Gegenwart