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Die Praxis der Choralbegleitung (1)


Grundsätzliche Bemerkungen zur Orgelbegleitung des gregorianischen Chorals.

Aufsatz von Hermann Schroeder, erschienen in: Musica sacra 70, 1937, S. 141-143 und S. 195-196

Es ist nicht anzunehmen, daß auf einem so stark umstrittenen Gebiet wie dem der Choralbegleitung alle Gemüter zu einer friedlichen Einigung kommen werden. Wie man ja in den seltensten Fällen auf künstlerischem Gebiet mit mathematischer Sicherheit eine Frage lösen kann, sondern neben allen wissenschaflich zu behandelnden Fragen doch auch der persönliche Geschmack – soweit er künstlerisch begründet werden kann – zu Recht besteht, so soll es auch nicht der Zweck dieser Aufsatzreihe sein, ein bestimmtes System zu beweisen bei einem Thema, zu dem historische Kenntnis bzw. Unkenntnis, Forderungen einer Praxis, persönlicher Geschmack, überkommene Tradition, Unzulänglichkeit der Verhältnisse und andere persönliche oder sachliche Voraussetzungen keine einheitliche und gemeinsame Grundlage zur Besprechung bieten. Um eine solche gemeinsame Grundlage zu gewinnen, scheint uns von vorneherein folgendes äußerst wichtig: grundsätzlich betrachten wir die Choralbegleitung von zwei verschiedenen und voneinander unabhängigen Gesichtspunkten:

1. die Choralbegleitung vom rein künstlerisch-musikalischen Standpunkt aus
2. die Choralbegleitung und unsere kirchenmusikalische Praxis.

Viele Irrtümer und falsche Anschauungen rühren daher, daß man künstlerische Erkenntnisse mit Fragen der praktischen Forderungen vermengt. Wir müssen daher unsere Fragen, zum mindesten die erstere als grundlegende gesondert betrachten.

1. Die Frage der künstlerischen Möglichkeit einer Begleitung des gregorianischen Chorals
Daß der Choral ein wirkliches Kunstwerk ist, dafür braucht man an dieser Stelle einen Beweis wohl nicht anzutreten; es ist sowohl geschichtlich wie musikalisch erwiesen, daß wir esbeim gregorianischen Gesang nicht mit irgendeiner Entwicklungsstufe, sondern nit einer musikalischen Hochkultur allerersten Ranges zu tun haben. Das Wesen eines Kunstwerks ist aber seine Vollkommenheit, die sich in vollendetem Ausgleich zwischen Inhalt und Formanlage bekundet; da nun bei dem Kunstwerk jeder Einzelteil als wesentliches Element dazugehört, also zum Gesamten in keiner Weise indifferent oder zufällig ist, kann weder etwas weggelassen noch darf etwas hinzugefügt werden. Dies gilt für jedes Kunstwerk ganz allgemein.

Der Choral ist nun ein rein melodisches Kunstwerk, das eine "Harmonie" nicht kennt. Theoretisch gibt das jeder zu; wenn aber jemand den gregorianischen Gesang mit einer Begleitung doch schöner, wertvoller, vielleicht gar "interessanter" empfindet als ohne harmonisches Gewand, so beweist er damit praktisch (und darauf kommt es bei der Kunst letzten Endes an), daß er entweder das Fehlen der harmonischen Einkleidung als einen Mangel am "Kunstwerk" Choral empfindet oder von seiner Person aus unfähig ist, den Choral als ein melodisches Kunstwerk zu erleben.

Der erste Fall ist ein historischer und künstlerischer Irrtum: denn die Choralbegleitung in ihrer heutigen Form ist ja erst in den beiden vergangenen Jahrhunderten entstanden, entwickelte sich also in einer wesentlich harmonisch eingestellten Zeit, der die Fähigkeit abging, eine freie melodische, taktmäßig nicht gebundene Linie als Kunstwerk zu empfinden. Da wir in der gesamten Musikentwicklung heute immer stärker die wichtige Forderung anerkennen, jeden Stil aus seiner inneren Gesetzmäßigkeit und in seiner Eigenart zu erleben, und diese Stilerkenntnis in der Aufführungspraxis ihre allgemein anerkannten Forderungen stellt, muß man die stilistische Einfühlung auch für die Gregorianik fordern, die schließlich in derselben Art die Bedingungen einer „Klassik“ erfüllt wie etwa Palestrina – Bach – Mozart. Bei allen anderen Stilarten ist eine einwandfreie Aufführung für uns eine Selbstverständlichkeit, z. B. die Gestaltung und Registrierung der Orgelmusik des Barock, die Besetzung der Musik des Generalbaßzeitalters usw. Nur beim Choral glaubt man sich dieser Forderung entziehen zu können und meint etwa noch, durch eigene, oft recht unkünstlerische aus dem Augenblick geborene harmonische Zutaten dem Kunstwerk zu dienen oder es zum mindesten für uns (bzw. für sich) erst erlebnisfähig zu machen. Hier herrscht die falsche Voraussetzung, daß man das Kunstwerk zu der mehr oder weniger engen stilistischen Erlebnisfähigkeit der Zeit, in der man gerade lebt, herabzieht anstatt zu versuchen, die Höhe, auf der das Kunstwerk steht, erst einmal selbst zu erklimmen, um dann auch für andere ein Führer zu dieser Höhe sein zu können.
Zu dieser allgemein künstlerischen Betrachtung muß sich noch die rein musikalische gesellen: die Grundlagen der choralischen Melodik (Kirchentonarten) und unsere harmonisch gebundene Musik mit ihrem quintenmäßigen Aufbau sind so verschieden, daß ein Weg zu einer Einheit schon von der Stilistik her sehr in Frage gestellt sein wird. So ist es denn in vielen Fällen ganz unmöglich, die Melodien harmonisch festzulegen, vor allem nicht in die Harmonien, die sich nach den Gesetzen einer funktionalen Ober- und Unterdominantspannung und der entsprechenden Bezogenheiten vertikal aufbauen.
Rein künstlerisch wird auch die beste Choralbegleitung für den Choral als Kunstwerk niemals ein Plus bedeuten; eine Begleitung kann aber auch für die Wirkung des Kunstwerks kein gleichgültiger Faktor sein, muß also notwendig der Reinheit des Kunstwerks abträglich sein; mit anderen Worten: jedem vollendetem Stil gereicht eine noch so gut gemeinte Zutat zum Schaden, d. h. in unserem Falle: die
Harmonisierung der gregorianischen Melodien muß vom künstlerisch-musikalischen und stilistischen Standpunkt aus abgelehnt werden.

2. Haben wir uns bei der bisherigen Betrachtung unserer Frage nur von rein künstlerischen Gesichtspunkten leiten lassen, so muß doch das Ergebnis dieser Betrachtung die Grundlage bilden für die praktische Seite der Behandlung unserer Frage. Die Praxis gibt nur in dem Falle eine Norm für die Aufführung ab, in dem Produktion und Reproduktion des Kunstwerks in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Die Praxis unserer heutigen Choralbegleitung ist aber schon zeitlich so weit von der Entstehung der Melodien entfernt, daß die heutige Form der Aufführung für uns in keiner Weise eine Norm sein darf.
Nachdem die vergleichende Musikwissenschaft in den letzten Jahrzehnten uns wieder stärker die Entwicklung der reinen melodischen Kunst (z. B. in der außereuropäischen Musikentwicklung) geklärt hat und die Haltung der jungen Generation wesentlich linear ist – gegenüber der starken Betonung und stellenweise Überbetonung des Harmonischen bei der älteren Generation –, ist es nicht zuviel behauptet, daß die Jugend vom rein Musikalischen aus eine günstigere und reinere Einstellung zum Choral als Ausdruck vollendetster Linienkunst besitzt als die Generation, die in der Spätromantik der Vorkriegszeit gefühlsmäßig verwurzelt ist. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß sich dieser Unterschied auch auf dem Gebiet der Choralbegleitung äußert, indem die Jgend eher radikal ist als Konzessionen billigt, die ihren Ursprung zuletzt doch nicht in der Verschiedenartigkeit künstlerischer Anschauungen haben, sondern in der gewohnheitsmäßigen Trägheit und Bequemlichkeit. Wenn wir also vom Musikalischen aus jede Begleitung ablehnen mußten, so möchten wir doch für gewisse Fälle der kirchenmusikalischen Praxis nicht jedes Recht auf eine Forderung überhaupt ablehnen.
In Fällen, in denen man mit einer Orgelbegleitung Sänger stützen oder sogar führen muß, in werktäglichen Gottesdiensten (Requiem), in denen meist sehr wenige Sänger zur Verfügung stehen, manchmal der Organist gleichzeitig sozusagen Vorsänger und Schola allein "markieren" muß, sowie bei ähnlichen Gelegenheiten der praktischen Unzulänglichkeit wird man der Orgelbegleitung ein Lebenrecht wohl einräumen dürfen. Alle diese Fälle, in denen eine Orgelbegleitung Forderung künstlerischer Minderwertigkeiten ist, indem sie schleppendes, falsches, unrhythmisches oder schlecht geübtes Singen mehr oder weniger zudecken will der soll, kommen allerdings im folgenden in keiner Weise in Betracht. Denn darüber besteht bei niemandem ein Zweifel, daß ein künstlerischer Fortschritt im Choralgesang nur seinen Ausgang nehmen kann vom Üben und Singen ohne Begleitung. (Jeder Chorleiter weiß genau, daß er den Choral viel intensiver üben üben muß, wenn er zum A-cappella-Gesang gezwungen ist, als wenn er weiß, daß er und die Sänger sich auf die Orgel verlassen können!)

Die praktische Frage "Choral mit oder ohne Begleitung" ist also nicht von der Begleitung aus zu lösen, sondern nur vom Singen der Chorals, d. h. da wir mit einer Begleitung dem Choral künstlerisch nicht nutzen, sondern höchstens schaden können, wollen wir im folgenden für die Gelegenheiten, wo man nicht darauf verzichten zu können glaubt, eine Begleitung versuchen, die soweit als eben möglich alles ausschaltet, was irgendwie Tonalität, Rhythmus, Form, rnelodischen Fluß und Stimmungsgehalt eines Choralstückes stören könnte. Um zu einer solchen Choralbegleitung zu kommen, ist die wichtigste Voraussetzung, daß man selbst den Choral mit eigenem Gesang künstlerisch gestalten kann, ferner daß man ihn nicht deshalb singt, weil er kirchlich vorgeschrieben ist, sondern weil man ihn infolge eigenen Singens und Studiums als die liturgische Musik selbst empfunden hat und noch dauernd mit künstlerischer und liturgischer Begeisterung erlebt. (>>> Teil 2)


Schriften von H. Schroeder
Die Praxis der Choralbegleitung (2)